leseprobe aus "was kommt" von steven harrison

das verleugnen der liebe (s. 155-161)

die energie der liebe strömt durch jeden von uns. das hat nichts mit romantik zu tun. genauso wenig entspricht es einem spirituellen ideal. vielmehr ist liebe eine kraft, die uns aufs tiefste berührt und grundlegend mit allen menschen verbindet, denen wir begegnen. es ist eine energie, die wir mit unseren geistigen und emotionalen strukturen niemals völlig erfassen oder integrieren können. diese energie ist so stark, dass sie den halt in unserem leben jederzeit erschüttern und zerstören kann. genau diese zerstörung möchte unser denkender geist verhindern.
obgleich die liebe in allem fließt und an nichts bestimmtes gebunden ist, erleben wir sie doch meistens als gefühle und als interpretation dieser gefühle durch unseren verstand. das gefühl von liebe ist keine liebe mehr, sondern nur noch deren schwacher nachhall.
wenn uns die begegnung mit einem anderen menschen überwältigt, erkennen wir sofort, dass wir es mit einer kraft zu tun haben, die wir weder verstehen noch kontrollieren können. gleichzeitig ist diese kraft offensichtlich und fühlbar präsent. das ist ein unglaublicher moment. wir sind in verbindung mit einer kraft ohne jede interpretation oder möglichkeit, diese kraft lenken oder handhaben zu können. das ist nicht besonders angenehm, also legen wir uns eine passende strategie zu. zuallererst nehmen wir die energie und die auftauchenden gefühle persönlich, dann analysieren wir sie mit unserem verstand, bis wir sie schließlich zu etwas vertrautem gemacht haben.
wenn wir ohne partner sind, suchen wir den kürzesten weg in eine beziehung. wenn wir verheiratet sind, flechten wir eine affäre ein oder probieren es mit der unterdrückung von gefühlen. haben wir angst vor nähe, nehmen wir reißaus, wollen wir nähe, manövrieren wir uns in eine beziehung.
dies alles sind strategien – und recht oft scheinen sie zu funktionieren. wir finden beziehungen. wir vermeiden beziehungen. aber es gibt momente im leben, in denen diese energie einfach fließt, wo sie sich nicht mehr kontrollieren lässt und in keine uns vorstellbare form gepresst werden kann. sie lässt sich weder unterdrücken noch lässt sie uns einen spielraum. diese energie kommt nicht nur, um etwas zuschaffen – sie zerstört auch. sie kommt zu uns, um die strukturen unseres lebens aufzubrechen – vielleicht sogar, um völlig neuen strukturen zu erschaffen.
ein anderer mensch berührt uns, und wir heiraten. jemand berührt uns, und unsere familie, freunde, kollegen können weder begreifen noch akzeptieren, was geschieht. jemand berührt uns, und unser ganzes leben wird in frage gestellt. alles, was und lieb und teuer war, steht mit einem mal auf dem spiel. wir spüren das enorme risiko, das durch diese energie in unser leben tritt, und wir leugnen, dass wir diese liebe überhaupt fühlen. wir wählen die sicherheit und geborgenheit und ziehen uns von diesem tiefen gefühl zurück, das unsere welt erschüttert. wir rationalisieren, wir moralisieren, wir ritualisieren. wir flüchten in widerstand und bestrafen uns, wenn wir in unserem widerstand nachlassen. wir leugnen die liebe. wir werden wie judas.
judas verleugnete die liebe. im angesicht der sicheren zerstörung, die ihm durch seine beziehung zu jesus drohte, entschied er sich für die sicherheit. die ironie ist, dass die wirkliche zerstörung, die judas zu ertragen hatte, gerade in dieser verleugnung lag – in dem erkennen, was aus ihm in seiner angst geworden war. überleben würde er – aber leblos, und mit der unabwendbaren erkenntnis, die tiefgreifendste liebe seines lebens weggeworfen zu haben.
in unserem verleugnen der liebe sind wir alle zu judas geworden. in den kleinen momenten jeden tag – in unseren interaktionen, in den kleinlichen und unbedeutenden intrigen und konflikten, dem fehlen kleiner aufmerksamkeiten und zuneigungen. wir leugnen die liebe insbesondere dann, wenn sie auf heftige und überwältigende weise in unser leben tritt. wir bleiben nicht still in dieser energie und bezeugen sie, so dass alle davon erfahren würden. wir leugnen sie, um unsere ehe zu schützen, unsere familiären strukturen, unsere arbeit, unser ansehen.
auf keinen fall sagen wir zum anderen „ich fühle eine tiefe verbundenheit zu dir. keine ahnung, worauf das hinausläuft, aber lass es uns herausfinden“. wir sagen das nicht, weil es peinlich wäre, demütigend, verwirrend, skandalös. wir sagen es nicht, weil uns die kontrolle entgleiten würde. wir sagen es nicht, weil wir das ganze nur durch die verzerrungen unseres verstandes und unserer emotionen erleben. wir können uns diese energie nur in den projektionen unserer einbildungswelt vorstellen. wir vertrauen nicht darauf, dass diese kraft intelligent genug ist, sich in unser leben zu integrieren – und unser leben vollkommen zu übernehmen und zu einem reinen ausdruck von liebe zu machen.
wenn wir die liebe jedoch verleugnen, wird unser leben leer, es trocknet aus und spaltet sich ab. unser leben ist dann zwar beschützt, aber das lebendige bleibt draußen vor der tür. wenn wir dieser kraft die tür öffnen, dann öffnen wir sie gleichzeitig auch für die transformation. die strukturen unseres lebens, unser geist, unser gefühle, körper, familie, soziale bindungen und arbeit, wollen keine transformation. es sind diese strukturen, die zerstört und neu erschaffen werden würden. diese strukturen – das, was wir glauben zu sein – werden die liebe jederzeit verraten.
der verrat an der liebe geht ganz einfach: wir konzeptualisieren die energie, wir verpacken die liebe in psychologische schuld, emotionale manipulation, sexuelle macht, spirituellen klimbim oder religiöse moral. mit einiger schlauheit organisieren wir diese energie: dem einen suggerieren wir, dass wir ihn lieben, und dem anderen, dass wir ihn nicht lieben. wir leben in dieser energie und gleichzeitig verraten wir sie durch unsere konzepte. wir lassen sie nie in ihrer eigenen wirklichkeit fließen. niemals vereinigen wir die welt in einem universellen ausdruck von liebe. nie würden wir die geliebte mit nach hause in unsere ehe bringen. nie bleiben wir still im angesicht des inneren dranges, diese energie in sexuelle zu tragen oder in die angst oder in irgendwas anderes, was sie nicht ist.
mit allen fasern unseres seins sind wir auf den verrat an der liebe eingestellt. das beste, was wir vermeintlich erreichen können, ist ein religiöses ideal, jenes großartige konzept, unseren nächsten zu lieben wie uns selbst. wir huldigen diesem ideal, aber wenn die energie, die dahinter steht, wirklich in uns auftaucht, verschieben wir sie auf später – wenigstens bis zum gottesdienst am sonntag.
es ist für uns unmöglich, etwas anderes zu tun, als die liebe zu leugnen. und unerbittlich durchströmt uns die liebe und erschüttert uns. wenn sie uns dann schließlich zerschmettert, können wir sie nicht mehr ignorieren; alle strukturen, die wir aufgebaut haben, um die flutwelle aufzuhalten, sind zerstört. wir werden weggespült. wenn unser leben nicht der liebe gewidmet ist, wem oder was dann?
wir fühlen uns aufgerufen, etwas mit dieser bewegung der liebe zu tun. und dieses tun tendiert dazu, etwas um die liebe herum zu errichten, was wir dann für die liebe selber halten und nicht für eine ihrer begleiterscheinungen. wenn wir einmal diese illusionäre brücke überquert haben, identifizieren wir uns mit der form, in der uns die liebe begegnet, mit einer anderen person. dazu meldet sich in uns angst und aufregung, verbunden mit der frage: „will sie mich? oder will sie nicht?“, und wir idealisieren: sie ist so intelligent, so wunderschön, so rein. genießen wir die illusion, denn sie wird nicht von dauer sein. bezahlt wird später mit schmerz und enttäuschung. die aufregung lässt nach, und sie räumt der alltäglichen langeweile das feld. verflogen sind die idealisierungen. dies liegt schlicht in der natur der erscheinungen. sie ändern sich.
das persönliche spielt sich in den vordergrund, und verschleiert die energie, die darunter liegt. das persönliche wird immer verwirrend sein. und weil es verwirrend ist, wird es sich nicht mehr vollkommen und wunderbar anfühlen, und damit wird es sich auch nicht mehr nach liebe anfühlen, und so weiter.
wir begegnen der liebe in den dümmsten momenten, und oft stellt sie sich quer zu den etablierten beziehungen unseres lebens. wir können versuchen, die liebe abzutrennen oder ihren ausdruck einzuschränken – oder wir wechseln kurz entschlossen den partner. aber es gibt auch die möglichkeit, die gesamt energetische bewegung transparent und offen zu gestalten, sie als energie anzunehmen uns sie als solches wertzuschätzen und sich ihr nicht als persönlichkeit entgegenzustellen. wenn diese liebe real ist, dann wird sie sich mit jedem teil unseres gegenwärtigen beziehungsgeflechtes verbinden und sich nicht in konkurrenz dazu stellen. wie wäre es, wenn wir die neue liebe, der wir begegnet sind, direkt in unser bestehendes leben hineinnehmen und allen vorstellen, die unser leben teilen? das verspricht für alle beteiligten eine interessante reise zu werden. es wird eine feuerprobe für die echtheit der liebe sein.
das fließen der liebe ist das fließen von transformation. jeder, der sich diesem strom überlässt, sei von vornherein gewarnt, dass er alles verlieren wird, selbst das, von dem er nicht einmal wusste, dass er es zu verlieren hat. die liebe zerstört uns, um aus der asche etwas vollkommen neues zu erschaffen. liebe ist das medium aller, die den mut haben, sich in dieser energie zu begegnen – ein großes herz, geformt aus einem gebrochenen herzen. liebe umfasst das gesamte herz, den geliebten, das romantische, das gebrochene, das verwüstete, und das kraftpotential von dem, was als nächstes kommt.