leseprobe aus "das inspirationsbuch 2006"

der große irrtum

unsere rituale sind glücklicherweise nicht so dumm wie wir. wir glauben fälschlicherweise, wir feiern mit der hochzeit die macht der liebe. aber wenn es so wäre, dann sollten unsere freunde und verwandte einen großen festlichen kreis um uns bilden und "all you need is love" singen. sie sollten uns mit rosenblättern überhäufen und uns schließlich als paar mit langen perlenketten zusammenschnüren. aber so heiraten wir bekanntlich nicht. weil wir auch nicht die verbindende macht der liebe feiern, sondern unser "ja" füreinander. wir feiern eine entscheidung.

eine entscheidung zu fällen ist das eine. eine entscheidung durchzuhalten das andere. das wissen wir. aber liebe hätten wir dann doch gern als selbstgänger. obwohl wir ja alle das entschwinden von liebes-gefühlen erlebt haben. der blick in seine augen und plötzlich groovt nichts mehr. kein warmer, wabernder oder wirbelnder kick mehr. wer glaubt, die liebe bliebe einfach, der weiß noch sehr wenig.

um eine entscheidung durchzuhalten, müssen wir die entscheidung immer wieder neu fällen. jeder, der sein zimmer aufgeräumt hält, diät macht oder verständnisvoll mit seinen kindern umgeht, versteht das. und auch für unsere liebe müssen wir uns immer wieder entscheiden. wenn wir es nicht tun, dann flüchtet die liebe. denn liebe ist keine laue angelegenheit. entweder wir gehen immer wieder auf unseren liebespartner zu und sagen ja. oder wir weichen aus. dann entfernen wir uns und sagen im grunde nein. und befinden uns auf einem der fluchtwege, die aus der liebe herausführen. auf einem der fluchtwege der liebe.

die kleinen vermeider

um zwei uhr nachts stochert manfred immer noch mit der fernbedienung in den tv-kanälen herum. dralle blondinen strecken ihm ihre nippel entgegen, raunen: "komm, nimm mich!" und manfred hätte nichts dagegen. denn sex mit sabine ist nicht mehr der knüller für manfred. dabei mag manfred sex. und sabine. und sex mit sabine. aber seine liebste hat ihm verraten, dass ihr der sex mit ihm nicht mehr den richtigen kick bringt. er sei irgendwie abwesend, hat sie gesagt. na gut, er hatte viel zu arbeiten. und auf dem laufband war er auch auch schon monatelang nicht. kommt schon wieder, dachte er. aber dann lag er doch verunsichert neben ihr und konnte nicht schlafen. und wollte nicht mit ihr und nicht von ihr weg sein. und irgendwann dann hat er angefangen, länger aufzubleiben. und mittlerweile schlüpft er jeden abend erst ins bett, wenn sabine längst schläft. und morgens, wenn sie munter wird, ist er noch mürrisch und müde. sabine hat ihn schon oft aufgefordert, mit ihr ins bett zu kommen. aber manfred war dann immer noch nicht müde genug. irgendwann wird sich das schon wieder ändern, denkt manfred. und die nackte frau vor ihm verspricht, auf ihn zu warten.

wir flüchten aus der nähe nicht wie aus einem gewittersturm. wir geraten auf die fluchtwege, so wie wir in eine nebenstraße gelangen, weil wir einem stau ausweichen wollen. wir fühlen uns gekränkt und ziehen uns ein wenig zurück. wir sprechen nicht darüber, weil wir die harmonie erhalten wollen. wir beginnen, aneinander vorbeizuschauen. wir lesen beim gemeinsamen essen in der zeitung. verkriechen uns im bett mit krimis, statt noch miteinander zu sein. wir glauben uns auf einem rettungsweg, aber tatsächlich sind wir auf der flucht, weil wir aufeinander wütend, voneinander enttäuscht oder ängstlich sind. unsere gefühle aber bedrohen uns unbewußt, denn sie machen uns hilflos. also weichen wir aus. wir vermeiden intimität und nähe zum partner oder schaffen uns situationen, in denen wir unserem unbehagen entgehen können.

zuerst sind es die kleinen vermeider. sie hängt den ganzen abend mit ihren freundinnen am telefon. er kommt immer zu spät zum essen. sie ist oft müde und erschöpft und muss sich hinlegen. er lässt das handy für kundenanrufe immer an. sie reagiert nur noch flüchtig auf seine berührungen. er hat keine lust mehr auf den gemeinsamen tanzkurs. je unerfüllender die alltäglichen begegnungen und je leerer die die verbindenen rituale durch unser ausweichen werden, desto attraktiver werden die versteigerungen bei ebay und die squash-abende. wir weichen nicht einfach ins nichts aus, sondern in die emotional weniger fordernden, leichter zu kontrollierenden bereiche unserers lebens.
oskar holzberg